Amerikanische Kinderärzte ignorieren medizinische Leitline

Ärzte verschreiben bei ADHS-Verdacht leichtfertig Ritalin

von Holger Westermann

Schon Kleinkinder werden mit Methylphenidat oder ähnlichen Substanzen ruhig gestellt, obwohl eine solche Medikamententherapie – wenn sie sich denn überhaupt auf eine gesicherte Diagnose stützen kann – nicht der medizinischen Leitlinie entspricht. Über 90% der amerikanischen Fachärzte verstoßen offensichtlich gegen die Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften und verordnen ihren kleinen Patienten Psychopharmaka.

Im Verdacht standen vor allem die amerikanischen Hausärzte, vorschnell Tabletten zu verschreiben. Ihnen fehlt zumeist die Erfahrung eine korrekte ADHS-Diagnose zu stellen und dann eine geeignete Verhaltenstherapie zu empfehlen. Der Griff zum Rezeptblock ist dagegen gut geübt und auch die Eltern der auffälligen Kinder und Jugendlichen sind zufrieden: Für sie ist es einfacher die regelmäßige Pilleneinnahme zu kontrollieren, als eine psychologische Therapie ihres Nachwuchses fürsorglich zu begleiten. Deshalb konzentrierte sich das Forscherteam um Dr. Andrew Adesman vom Steven and Alexandra Cohen Kinderkrankenhaus am New Hyde Park, New York (USA) bei ihrer Untersuchung zu den verordneten ADHS-Therapien auf spezialisierte Kinderärzte (insgesamt 560), insbesondere Kinderpsychiater und Kinderneurologen.

Das Ergebnis der Befragung widerspricht der offiziellen Leitlinien für die ADHS-Therapie bei Kindern, die von der amerikanischen medizinischen Fachgesellschaft entwickelt und herausgegeben wurde. Darin wird den Ärzten empfohlen nach einer eingehenden, mehrstufigen Diagnose den Kindern und Jugendlichen zunächst mit einer speziell auf den Einzelfall abgestimmte psychologische Verhaltenstherapie zu helfen. Erst wenn sich diese Maßnahmen als nicht hinreichend wirkungsvoll erweisen könne eine Unterstützung durch Medikamente in Betracht gezogen werden. Die therapeutische Wirklichkeit sah jedoch ganz anders aus: Über 90% der Fachärzte verordneten sofort Psychopharmaka, zudem verschrieben annähend 40% nicht das eigentlich empfohlene Mittel Ritalin, sondern andere Medikamente zur Veränderung des Hirnstoffwechsels, beispielsweise Amphetamine.

Die Vorliebe für Medikamente statt Verhaltenstherapie beruhte dabei nicht auf der Verfügbarkeit geeigneter Therapeuten. Die Dichte spezialisierter psychiatrischer Praxen hatte keinen Einfluss auf die Therapieentscheidung der Ärzte. Die Erstautorin der Studie Dr. Jaeah ist erstaunt: „Zu einer Zeit, in der sich Öffentlichkeit und Experten um die Übermedikalisierung von Kindern mit ADHS sorgen, scheinen viele medizinische Spezialisten diesen Kindern Medikamente als Teil der Anfangsbehandlung zu empfehlen.“

Doch auch in Deutschland steigt die Zahl der ADHS-Diagnosen rasant - und mit ihr die Verordnungen von Psychopharmaka. Wurden hierzulande im Jahr 2000 noch rund 11 Mio. Tagesdosen kassenärztlich verordnet, waren es 2005 schon 33 Mio. Tagesdosen und 2010 bereits 56 Mio. Tagesdosen verordnet. Hinzu gerechnet werden müssen noch alle Verschreibungen auf Privatrezept. Das bedeutet einen Absatz des reinen Wirkstoffs (als Base) von 463 kg im Jahr 2000; rund 1.000 kg (eine Tonne!) im Jahr 2005 und 1,75 Tonnen im Jahr 2010. In den letzten Jahren stagniert das Wachstum der Verschreibungen, doch das bei stark rückläufigen Kinderzahlen im relevanten Alter. So erhält ein immer größerer Teil der Kinder in Deutschland Psychopharmaka.

So gehen in der amerikanischen Studie annähernd 20% der Fachärzte davon aus, zukünftig noch häufiger als heute den Kindern Psychopharmaka zu verschreiben. Nur eine Minderheit von 3% hofft, in Zunft weniger dieser Rezepte auszustellen. Der Leiter der Studiengruppe Dr. Adesman glaubt den Grund für dieses Fehlverhalte der Kollegen zu kennen: „Nachdem die AAP* ihre Leitlinien zu Diagnose und Behandlung auf Kinder im Vorschulalter ausgedehnt hat, wird wahrscheinlich bei mehr kleinen Kindern ADHS diagnostiziert“. Aber die Therapieempfehlungen der Kinderärzte orientieren sich in alter Gewohnheit an den Empfehlungen für deutlich ältere Patienten.

Dr. Klaus Holstein, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendpsychotherapie am Bezirkskrankenhaus in Bayreuth, warnt ausdrücklich vor übereilten Diagnosen und Therapien bei sehr jungen Patienten: „Jüngere Kinder sind entwicklungsbedingt oft noch sehr lebhaft und noch nicht so strukturiert". Deshalb sei eine ADS/ADHS schwer zu diagnostizieren, dazu seien mehrere intensive Untersuchungen verbindlich vorgeschrieben. "Bei uns verschreibt wohl niemand bei ADHS gleich beim ersten Arztbesuch Medikamente." , da ist sich Dr. Holstein sicher. Doch die enorme Zahl der verordneten Ritalin-Tagesdosen lässt sich mit einer solchen "zurückhaltenden" Verschreibungspraxis nicht erklären.

 

* American Academy of Pediatrics, Amerikanischer Verband der Kinderärzte

Quellen:

Chung, J. et al. (2013): Medication Management of Preschool ADHD by Pediatric Sub-Specialists: Non-Compliance with AAP Clinical Guidelines. Diese Studie wurde am am Samstag, 4. Mai 2013 (11:30-11:45) im Walter E. Washington Convention Center (RM. 102B) auf dem Kongress der pädiatrisch wissenschaftlichen Gesellschaften (Pediatric Academic Societies, PAC) in Washington, D.C. präsentiert.

NICE (National Institute for Health and Care Excellence) Guideline CG72: Attention deficit hyperactivity disorder: Diagnosis and management of ADHD in children, young people and adults. Version März 2013.

Maier, R.; Willems, W. (2013): Psycho-Pillen schon im Kindergarten. Artikel in der Frankenpost mit einem Interview mit Dr. Klaus Holstein, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Bezirkskrankenhaus in Bayreuth vom 14.05.2013

Erstellt am 15. Mai 2013
Zuletzt aktualisiert am 15. Mai 2013

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