Phytopharmaka sind bei Angststörungen weitgehend wirkungslos
Angst mit Kräuterkraft lindern
Medikamente auf Basis von Wirkstoffen, die aus Pflanzen gewonnen wurden, gelten als besonders natürlich und arm an unerwünschten Nebenwirkungen. Zudem können solche Medikamente oft auch ohne Rezept in der Apotheke gekauft werden. Gerade bei psychischen Problemen scheuen viel Betroffene den Weg zum Arzt, der eine stigmatisierende Diagnose stellen könnte - so werden auch ernsthafte Erkrankungen als Befindlichkeitsstörung behandelt. Bei Angststörungen ist das offensichtlich der falsche Weg.
Allein in Deutschland wurde im Jahr 2010 rund 8,5 Millionen Packungen pflanzlicher Beruhigungsmittel verkauft. Dabei sind nur für wenige dieser Medikamente überhaupt eine medizinische Wirkung wissenschaftlich belegt. So können bei leichter bis mittelschwerer Depression (minor depression) Johanniskraut-Arzneimittel helfen. Bei Angststörungen sind sie jedoch weitgehend wirkungslos. Deshalb ist eine Differenzialdiagnose, die zwischen Depression und Angst unterscheidet unbedingt notwendig; der Besuch beim Facharzt unvermeidbar.
Bis 2002 waren in der EU auch pflanzliche Medikamente gegen Angststörungen zugelassen, doch die Kava-Kava-haltigen Präparate führten zu schweren Leberschäden und verloren somit die Zulassung. Ohnehin gibt es keine gültige Gleichung pflanzlich = natürlich = arm an Nebenwirkungen. „Dass ein Medikament pflanzlichen Ursprungs ist, sagt grundsätzlich nichts über sein Gefahrenpotenzial aus”, erläutern Professor Jürgen Hoyer vom Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden (Sachsen) und Professor Dr. Volker Köllner, Chefarzt der Fachklinik für Psychosomatische Medizin in Blieskastel (Saarland) in einer Übersichtsarbeit zum Einsatz Pflanzlicher Medikamente bei Angststörungen. Selbst das bewährte Johanniskraut können bei einzelnen Patienten eine Sonnenallergie (Photosensibilisierung) führen und den Abbau anderer Medikamente beschleunigen, wodurch diese ihre Wirksamkeit verringerten.
Auf der anderen Seite fehlen für viele empfohlene Medikamente der wissenschaftliche Wirknachweis. Baldrian, Hopfen oder Passionsblume werden zwar intensiv beworben, die Belege für einen therapeutischen Effekt sind aber so dürftig, dass die aktuelle S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Angststörungen daher von der Verschreibung von Phytopharmaka abrät. Es besteht die Gefahr, dass durch die Selbstmedikation mit „sanften“ Medikamenten, die ohne Arztbesuch und Rezept in der Apotheke eingekauft werden können, eine wirksame und wirklich hilfreiche Therapie verzögert wird oder gar unterbleibt. Gerade bei psychischen Störungen können sich so die Symptome verstärken. Denn „die Einnahme von Phytopharmaka oder Nahrungsergänzungsmitteln spiegelt meist ein somatisches Krankheitsmodell wider”, erklären die Forscher den Zusammenhang zwischen erfolgloser Selbstmedikation und Symptomverstärkung bis hin zur chronischen Angststörung.
Wie viele Menschen versuchen ihre psychischen Probleme zunächst mit pflanzlichen Präparaten zu lindern, ist nicht bekannt. Laut einer älteren Studie von Prof. Hoyer (2008) versuchen 95% der Angstpatienten sich zunächst durch irgendeine Form der Selbsttherapie zu helfen, bevor sie sich an einen Psychotherapeuten wenden. “Die Vermutung liegt nahe, dass viele dabei auf freiverkäufliche Phytopharmaka zurückgreifen, die als angstlindernd beworben werden”, so Prof. Hoyer in seinem Fazit. Dabei gäbe es eine wissenschaftlich bewährte natürliche Psychotherapie, die ausschließlich positive Nebenwirkungen aufweise und zudem noch deutlich günstiger sei als jedes Medikament: regelmäßiges Ausdauertraining.
Quellen: Hoyer, J.; Köllner, V. (2015): Pflanzliche Mittel bei Angststörungen - Eine wirksame und nebenwirkungsarme Ergänzung zur Psychotherapie? Psychotherapie im Dialog 16 (2): 56-59. DOI: 10.1055/s-0041-101049 Helbig, S.; Hoyer, J. (2008): What do patients do before it starts? Coping with mental health problems on a CBT waiting list. The Cognitive-Behavioural Therapist 1: 45-54. DOI: 10.1017/S1754470X08000044
Erstellt am 29. Juli 2015
Zuletzt aktualisiert am 29. Juli 2015

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